Zum Tode von Gerhard Steinke
Mit dem Tod von Gerhard Steinke am 26.05.2025 verliert die internationale Audio-Community einen ihrer engagiertesten Vertreter. Er war einer der profiliertesten Köpfe in der Audioentwicklung im deutschsprachigen Raum – und darüber hinaus. Über Jahrzehnte hinweg prägte er mit wissenschaftlicher Neugier, praktischer Erfahrung, internationalem Weitblick und menschlicher Zugewandtheit die Entwicklung von Tonstudiotechnik, Akustik, elektroakustischer Musik, Tonqualität im Hörfunk und Fernsehen. Er war Toningenieur, Forscher, Lehrer, Entwickler, Berater – und für viele von uns ein Vorbild.
Sein beruflicher Werdegang begann 1947 beim Landessender Dresden. Dort arbeitete er mit den großen Orchestern seiner Heimatstadt, der Staatskapelle Dresden und der Dresdner Philharmonie, noch ganz im analogen Zeitalter der Rundfunkproduktion. In diesen prägenden Jahren entwickelte er ein tiefes Verständnis für musikalische und technische Anforderungen, das seine spätere Arbeit entscheidend beeinflusste. Nach einem Studium der Nachrichtentechnik an der TH Dresden und den ersten Berufsjahren wechselte er 1953 zum RFZ in Berlin-Adlershof, dem zentralen Entwicklungsinstitut der DDR für Rundfunktechnik. Dort gründete er 1956 ein Labor für „Akustisch-Musikalische Grenzprobleme“, das sich mit raumakustischen Fragestellungen, subjektiven Hörtests und experimenteller Klanggestaltung befasste. Es war ein Pionieransatz – die technische, künstlerische und akustische Seite der Tonproduktion konsequent zusammenzudenken. Dort entstand das sogenannte Subharchord, ein subharmonischer Synthesizer für elektroakustische Musik, der erfolgreich in Studios und Rundfunkanstalten eingesetzt wurde. Gleichzeitig war Gerhard Steinke in verantwortlicher Position an der Einführung der stereofonen Rundfunkübertragung in der DDR beteiligt, sowie an der Entwicklung des richtungsorientierten Beschallungssystems Deltastereofonie (DSS), das in Konzertsälen und Freiluftarenen Anwendung fand.
In den 1960er-Jahren setzte Gerhard seine Tätigkeit zunehmend auf der internationalen Bühne fort, zunächst mit Standardisierungsprojekten bei der damaligen OIRT, später bei der ITU-R (ehemals CCIR), wo er als langjähriger Chairman der Arbeitsgruppe WP10C maßgeblich an der Entwicklung von Standards für Mehrkanaltechnik, Qualitätsevaluation und Studioakustik beteiligt war. Bereits zu DDR-Zeiten pflegte er intensive fachliche Kontakte zu westdeutschen und europäischen Rundfunkinstitutionen wie ARD, IRT, BBC und der EBU. Seine unterhaltsamen und inhaltlich dichten Vorträge waren europaweit geschätzt und stets gut besucht. Mit seiner verbindlichen, kommunikativen und fröhlichen Art war er in internationalen Gremien und Arbeitsgruppen ein geschätzter Diskussionspartner.
Trotz (oder gerade wegen) seiner Tätigkeit im geteilten Deutschland war Gerhard Steinke ein aktiver Brückenbauer. Ich selbst erinnere mich an unsere erste Begegnung bei einem ITU-Meeting in Genf: Er aus der DDR, ich aus der BRD – politische Barrieren spielten in unserer Zusammenarbeit keine Rolle. Fachlich waren wir uns einig, und menschlich sowieso. Uns verband derselbe Kompass: die kompromisslose Orientierung an Qualität, an Verständlichkeit und am gemeinsamen Ziel, das Hören und die akustische Gestaltung zu verbessern. Unsere abendlichen Gespräche bei internationalen Konferenzen, die unter den restriktiven Bedingungen dieser Zeit eigentlich nicht hätten stattfinden dürfen, waren für uns beide Quelle gegenseitiger Inspiration.
Ein zentrales Anliegen Gerhards war stets die praktische Anwendbarkeit und Verständlichkeit von Standards. Er behielt den Nutzen für Produzenten, Rezipienten und Techniker im Blick. Erwähnen möchte ich hier die von ihm initiierten SSF-Praxisempfehlungen zum ITU-Standard Rec. 775-1 für Surround Sound. Diese vom VDT unterstützten Empfehlungen bündeln internationale Normen (ITU/CCIR, EBU, OIRT, AES, DIN) in übersichtlicher, verständlicher Form und bieten praxisnahe Anleitungen für Aufnahme, Einmessung und Wiedergabe. Damit schuf er ein Werkzeug, das für Tonmeister, Studioplaner und Architekten von bleibendem Wert ist. Es erschien später auch als AES Technical Document TD1001.
In der AES war Gerhard Steinke seit 1963 aktiv, wurde 1986 zum Fellow ernannt und übernahm 1991/92 das Amt des Vice President für Europa. Ab 1990 leitete er bei der Deutschen Telekom ein Forschungsteam zu digitalen Übertragungssystemen (DAB, MPEG, Mehrkanalton). Auch nach seiner Pensionierung war er als Consultant aktiv und als gefragter Referent und Fachautor. Er hat zahlreiche Konferenzbeiträge, Fachartikel und technische Berichte veröffentlicht. Zwei seiner Bücher sind bis heute lesenswert: Mit den Ohren sehen – mit den Augen hören und Der Raum ist das Kleid der Musik.
Diverse Ehrungen würdigten sein Lebenswerk: Die Ehrenmedaille der OIRT, die Béla-von-Békésy-Medaille der ungarischen Akustikgesellschaft, die höchste Auszeichnung der AES, die Gold Medal, und die Ehrenmedaille des VDT. Zum 90. Geburtstag ehrte ihn der VDT mit dem denkwürdigen Steinke-Seminar, zu dem ca. 70 seiner Fachkollegen erschienen. 2023 trat er nochmals als Vortragender in einem VDT-Seminar zum Thema 100 Jahre Rundfunk auf, was ein Herzensanliegen von ihm war.
Doch mehr als Medaillen und Ämter bleiben uns die Erinnerungen an einen Menschen, der mit außergewöhnlicher Energie, Sachverstand, Präzision und Leidenschaft gearbeitet hat, nahezu bis zum Ende seines langen Lebens. Für viele von uns war er nicht nur ein berufliches Vorbild, ein brillanter Entwickler und ein großartiger Kommunikator. Sein breit gefächertes Wissen, verbunden mit der Eloquenz seiner kritischen, stets respektvollen, aber präzisen Sprache, sein Witz – das alles machte ihn zu einem beliebten Kollegen in allen Kreisen, in denen über Audiotechnik diskutiert wurde. Und er war sich nie zu schade, bei praktischen Fragen mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Er kannte die Technik, die Produktionspraxis – und die Menschen. Sein Name bleibt eng mit der Vorstellung vom guten Ton verbunden – nicht nur technisch, sondern auch im menschlichen Sinn.
Mit seinem Tod verliert unsere Community eine wichtige Stimme. Sein Werk bleibt – in Normen, in Veröffentlichungen, in den Köpfen und Herzen derer, die ihn kannten.
Lieber Gerhard, im Namen vieler Kolleginnen und Kollegen: Wir danken Dir. Du hast uns viel gegeben.
Günther Theile
P.S.: Hier könnt ihr Gerhard bei seinem letzten VDT-Seminar im Videomitschnitt sehen.